Der Zwillingsmord von Horgen zählt zu den bewegendsten Verbrechen in der Schweizer Kriminalgeschichte. Die von «Crime Schweiz» verfasste Kurzgeschichte «Tödliche Stille» befasst sich mit der Tat der aus Österreich stammenden Mutter. Diese Erzählung erscheint am 7. November als Kapitel im Buch «True Crime Österreich».

Eiskalte Serienmörder, verhängnisvolle Familiendramen, tragische Entführungen und skrupelloser Missbrauch. Das neuste Werk aus der True Crime-Serie um Autor Adrian Langenscheid liefert genau das. «True Crime Österreich» beinhaltet vierzehn Kurzgeschichten zu wahren Kriminalfällen aus Österreich auf 300 Seiten. «Crime Schweiz» hat ein Kapitel beigesteuert und veröffentlicht vor dem offiziellen Buchrelease einen ersten Auszug. Wer mehr lesen will, sollte unbedingt an der Buchverlosung auf unserem Instagram-Kanal teilnehmen.

Tödliche Stille

Es ist kalt in dieser Nacht auf Heiligabend im Dezember 2007. Die Temperaturen liegen deutlich unter dem Gefrierpunkt. Seit Tagen hat sich der Reif fest um die Äste der blätterlosen Bäume in der Mehrfamilienhaussiedlung gelegt. Die Gegend ist beliebt, mit Wohnungen für die Mittelklasse, viel Umschwung und schönen Spielplätzen. Das Quartier in Horgen liegt am linken Ufer des Zürichsees, rund 30 Kilometer von Zürich entfernt. Eine scheinbar heile Welt, perfekt für eine Familie mit kleinen Kindern.

In dieser Nacht ist kaum noch jemand auf den Straßen unterwegs. Es ist nach Mitternacht. Dunkelheit und Kälte haben den Ort in dumpfe Stille gehüllt. Hier und da sieht man noch ein Licht aus dem Stubenfenster schimmern. Sind hier die letzten Vorbereitungen für das Weihnachtsfest im Gange? In einer 5-1/2-Zimmer-Wohnung am Rande der Siedlung ist von dieser weihnachtlichen Stimmung nichts zu spüren. Im Gegenteil. In diesem Moment spitzt sich hier die Situation dramatisch zu und es passiert etwas, das die Fassade der vermeintlich heilen Vorstadtwelt mit voller Wucht einreißen wird.

2.22 Uhr. Notrufzentrale der Kantonspolizei Zürich. Ein Mann meldet sich am anderen Ende der Leitung. Er gibt an: Seine Kinder – siebenjährige Zwillinge – seien getötet worden. Vermutlich von Einbrechern.

Vorbei ist es mit der Stille in dem Wohngebiet. Nur kurz nach dem Notruf trifft die erste Polizeipatrouille, wenig später der Krankenwagen ein. Drehendes Blaulicht macht die Nacht zum Tag. Der Vater führt den Polizisten in die Wohnung, zuerst in Marios Zimmer. „Der Bub lag in einem hellblauen Pyjama auf dem Bett, das Gesicht zur Wand gedreht. Im linken Arm ein Plüschtier“, wird später bei der Gerichtsverhandlung aus der Niederschrift des Polizisten zitiert. Und weiter: „Ein Puls war nicht mehr spürbar.“ Auch im Zimmer gleich daneben trifft der Polizist auf ein lebloses Kind. Die Zwillingsschwester Céline. Doch die Kleine hat noch Puls. Verzweifelt versuchen Polizei und Notärzte das Mädchen zu retten, aber auch sie stirbt nur Minuten später in ihrem Kinderbett.

Noch in der Nacht laufen die Ermittlungen an. Polizisten befragen die Eltern. Den Vater, Franz (39) und die Mutter, Bianca (34). Sie geben erneut an, die Kinder seien von einem Einbrecher getötet worden. Der erste Eindruck am Tatort passt zu dieser Schilderung. Kleider liegen verstreut auf dem Boden, die Handtasche der Mutter ist ausgeleert. Ein Fenster steht offen.

In der Wohnung ist es eiskalt. Doch nicht nur wegen des offenen Fensters. Die Polizisten sichern Fußspuren und Fingerabdrücke. Da bekommt das gezeichnete Bild des Einbruchs Risse. Ein erster Verdacht nimmt Formen an. Schließlich lässt die Auswertung der Beweismittel wenig später nur einen Schluss zu: In dieser Nacht war keine fremde Person in der Wohnung. Der Tatort ist fingiert.

Zuerst schweigen die Eltern, dann beschuldigen sie sich gegenseitig. Beide kommen in Untersuchungshaft. Als die Weihnachtsferien vorüber sind und die Stühle im Klassenzimmer von Céline und Mario leer bleiben, steht das Dorf längst unter kollektivem Schock. Jetzt berichtet die gesamte Schweizer Medienlandschaft über den Zwillingsmord von Horgen. Journalisten fallen ein, sprechen mit Nachbarn. „Die Familie wirkte intakt“, heißt es immer wieder. „Diese Tat war nicht vorhersehbar.“ Die Obduktion bestätigt: die Kinder wurden erstickt. Jeweils mit einem Kissen aus ihrem Kinderbett. Unklar bleibt, wer es getan hat.

Nach einigen Wochen kommt Bewegung in den Fall. Der Vater wird entlassen, die Mutter bleibt in Haft. War sie es? Hat Bianca ihre beiden Kinder erstickt? Wer ist diese Frau, die zu so einer Tat fähig sein soll?

1993

Im österreichischen Skiort Sölden läuft die Skisaison auf Hochtouren. Bianca ist in diesem Winter 20 Jahre alt. Hier im Dorf, im Ötztal ist sie aufgewachsen, hier lebt sie mit ihren Eltern und zwei Brüdern. „Ich hatte eine schwere Kindheit in Tirol“, sagt sie Jahre später im Gerichtsprozess. Sie habe unter der Gewalt ihres alkoholkranken Vaters gelitten. Grundlos habe er zugeschlagen, auch bei der Mutter und sogar bei der Großmutter.

Bianca verpasst es, nach der obligatorischen Schulzeit eine Ausbildung zu absolvieren. Sie nimmt einen schlecht bezahlten Job in der Tourismusbranche an und bleibt finanziell von den Eltern abhängig. Sie kann es sich schlicht nicht leisten auszuziehen. Dabei hat sie zu dieser Zeit nur einen Wunsch: Sie will weg, dieses Elternhaus hinter sich lassen. In Sölden fühlt sie sich gefangen. Auf 2800 Metern über dem Meer trifft sie schließlich auf die Person, die ihr, wie sie später sagt, die Flucht ermöglicht. Bianca arbeitet an diesem Tag am Tiefenbachgletscher im Selbstbedienungsrestaurant an der Kasse.

Der 25-jährige Franz, Bauer und Baggerfahrer aus der Schweiz, ist in Sölden in den Skiferien. Den ganzen Vormittag ist er auf den Pisten rund um den Ort unterwegs. Es scheint zwar die Sonne, doch es ist eiskalt. Er muss sich aufwärmen und er ist hungrig. Beim Tiefenbachgletscher betritt er deshalb das Restaurant, stellt sich an der Kasse an, rückt vor und trifft auf die junge Frau. Bianca, schwarzes schulterlanges Haar, schlank. Sie gefällt ihm. Franz fragt, wann sie frei hat und ob sie ihn mal treffen wolle. Es bleibt nicht bei einem Treffen. Die beiden verlieben sich. Zwei Jahre später zieht Bianca in die Schweiz nach Reichenburg im Kanton Schwyz. 1996 heiratet das Paar.

Der Weggang der Tochter führt zum endgültigen Bruch mit den Eltern. So sagt es ihr Bruder kurz nach Biancas Verhaftung 2007 in einem Zeitungsinterview. „Danach sahen wir uns kaum noch. Meine Eltern wollten von ihrem neuen Schwiegersohn nichts wissen.“ Und weiter: „Darunter hat sie sehr gelitten.“ Auf die Frage der Journalistin, ob sie zu dieser Tat denn fähig sei, schluckt er und gibt zur Antwort: „Schwester, ich fasse es nicht.“

2010

Zwischenzeitlich sind Céline und Mario seit 2 Jahren und drei Monaten tot. Noch immer ist nicht geklärt, wer ihnen in der Nacht auf Heiligabend 2007 das Leben nimmt. Wer ihnen mit Gewalt ein Kissen auf das Gesicht drückt, bis sie leblos liegenbleiben.

Die Züricher Staatsanwaltschaft für Gewaltdelikte ist sich jedoch sicher. Sie klagt die Frau aus Sölden an und zieht vor Gericht. Die Anklageschrift stützt Staatsanwalt Markus Oertle mit Beweisen, Zeugenaussagen, Fotos und Expertenberichten. 20 Bundesordner füllt das gesammelte Material. Der Prozess vor dem Züricher Geschworenengericht beginnt am 10. März, einem Mittwoch.

Von Polizisten begleitet, betritt Bianca an diesem Tag den Gerichtssaal. Das Interesse ist gewaltig. Wegen der beschränkten Platzverhältnisse muss der Mordprozess per Videoschalte auf eine Großleinwand in einen Saal des Züricher Hallenstadions übertragen werden. Nur so finden alle Medienvertreter und Besucher Platz.

Bianca ist mittlerweile 36 Jahre alt. In ihren schwarzen Turnschuhen, blauen Jeans, einem weißen T-Shirt und einer roten Kapuzenjacke wirkt sie jünger als sie wirklich ist. Seit der Mordnacht sitzt sie in Untersuchungshaft. Und seither streitet sie vehement ab, etwas mit dem Tod ihrer Kinder zu tun zu haben. Auch Franz nimmt am Prozess teil – als Zeuge. Wenige Wochen nach seiner Verhaftung stellen Behörden die Untersuchungen gegen ihn ein. Er habe nichts mit der Tat zu tun, sind die Ermittler sicher. An diesem 10. März 2010 sind Bianca und Franz bereits geschieden. Er erkenne diese Frau nicht mehr wieder, sagt er vor Gericht.

Franz meint damit das Lügenkonstrukt, das Bianca über all die Jahre aufgebaut hat. Wie sie sich bei den Ermittlern und der Staatsanwaltschaft in Widersprüche verstrickt. „Ich habe mehrere Lügengeschichten erzählt, mehrfach gelogen.“, gibt sie im Prozess zu.

Auch über ihre außerehelichen Beziehungen. „Ich wollte nicht, dass diese ans Licht kommen“, sagt sie. Aber sie habe die Ehe nicht mehr ausgehalten. Ihr Leben sei zunehmend eintönig gewesen. In einem Café in Horgen, in dem sie kellnert, lernt sie zwei Männer kennen. Im November 2007 beginnt sie mit beiden ein Verhältnis. Sie lügt, sie habe sich von ihrem Mann getrennt, sagt sie dem einen. Dem anderen, dass ihr Mann sie betrüge.

Am 21. Dezember 2007 hat sie mit beiden Männern sexuellen Kontakt, mit dem einen vormittags, mit dem anderen am Abend. Und nur Stunden vor der Tat am 23. Dezember schreibt sie einem der Liebhaber per SMS: „Ich wünsche dir ganz viel Glück und Liebe, die ich dir gerne geben würde. Ich hoffe, dass ich dich morgen höre. Ich vermisse deine Wärme. Schlaf gut. Ich hab dich lieb und schicke dir ganz viele Küsse.“

Trotz des fehlenden Geständnisses folgen die Geschworenen der Staatsanwaltschaft und verurteilen Bianca wegen mehrfachen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Ein Urteil, das sie nicht akzeptiert. Bianca geht in Berufung – und bekommt in nächster Instanz Recht. Das Kassationsgericht hebt das Urteil auf, weil sie von ihrer Pflichtverteidigerin ungenügend verteidigt wurde, so die Begründung. Der Fall muss damit erneut vor Gericht. Bei all dem Hickhack bleibt eine Frage juristisch weiterhin unbeantwortet: Wer hat die Kinder getötet?

1999

Bianca und Franz sind seit drei Jahren verheiratet. Er hat sich in der Tiefbau-Branche selbstständig gemacht, sie hat eine Weiterbildung absolviert und hilft ihm bei der Buchhaltung und im Büro. Zeugen sagen später, sie hätten glücklich gewirkt. Sie seien damit beschäftigt gewesen, eine gemeinsame Zukunft aufzubauen.

1998 zieht das Paar um, in die Mehrfamilienhaussiedlung in Horgen. Und am 18. Mai 1999 kann das Paar sein Glück kaum fassen. Ihr erstes Kind, Töchterchen Lisa, erblickt das Licht der Welt. „Sie war für mich ein absolutes Wunschkind“, sagt Bianca später vor Gericht.

Ihr Glück währt aber nur kurz, es wird abrupt zerstört. Nur sieben Wochen nach der Geburt hört Lisa einfach auf zu atmen. Plötzlicher Kindstod heißt es damals. In der Gerichtsverhandlung 2010 sagt Bianca: „Diesen Verlust habe ich bis heute nicht verarbeitet.“

Dann der nächste Schock, wie sie sagt. Nur wenige Wochen nach der Beerdigung stellt sie fest: Sie ist wieder schwanger. Mit Zwillingen. Es sei ihr schwergefallen, sich über die erneute Schwangerschaft zu freuen. Zu sehr habe sie noch um das verlorene Kind getrauert. Doch bei der Geburt von Céline und Mario sei sie glücklich gewesen.

Bianca verändert sich danach stark. Sie schottet sich und die Kinder ab. Sie nimmt zu, wiegt irgendwann fast 100 Kilogramm. Ist das ein Zeichen dafür, dass sich in ihr etwas aufstaut? 2005 nimmt sie durch eine Magenbandoperation zwar fast 30 Kilogramm ab, doch sie ist gesundheitlich angeschlagen. Sie leidet an Krampfadern, muss Operationen an der Gallenblase und am Steißbein vornehmen lassen.

Staatsanwalt Markus Oertle sieht im Prozess 2010 in der sich „zuspitzenden Belastung“ im Privatleben dann auch ein Motiv für den Mord an den Zwillingen. Einerseits wegen der gesundheitlichen Probleme, andererseits wegen der Befürchtung, die außerehelichen Beziehungen könnten ans Licht kommen.

2012

Es ist der 12. Dezember, ein Mittwoch. Draußen ist es eiskalt, in der Nacht hat es bis ins Flachland geschneit. An diesem Morgen liegen weite Teile der Schweiz unter einer Schneedecke. Der Wetterdienst spricht von Temperaturen, die deutlich tiefer liegen als die Durchschnittswerte.

Bianca steht erneut vor Gericht. Noch immer wird sie beschuldigt, ihre siebenjährigen Zwillinge ermordet zu haben. Der Prozess findet am Bezirksgericht in Horgen statt. In 11 Tagen jährt sich der Tod der Kinder zum fünften Mal.

Was viele Beobachter zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: Es ist ein Morgen in diesem Gerichtssaal, der alles ändern soll. Bianca macht reinen Tisch. „Ich war es“, gesteht sie die Morde. Dann erzählt sie die erschütternde Wahrheit. Sie erzählt, was sich in der verhängnisvollen Nacht wirklich zugetragen hat. Damals als alle schon längst schlafen, geht sie zuerst in Marios Zimmer. Sie nimmt sein Kissen, legt es ihm auf den Kopf, setzt sich auf ihn und drückt zu. Er habe sich kaum gewehrt. Nur mit den Händen und nicht so stark, sagt sie. Den Druck lockert sie erst als sich der Bub nicht mehr bewegt.

Sie steht auf, geht ins nächste Zimmer zu Céline. Sie habe sich mit dem Kopf, den Händen, den Beinen gewehrt. Weil Céline kämpft, rutscht das Kissen immer wieder weg, Bianca muss es fortwährend neu platzieren. Der Überlebenskampf des Mädchens dauert mehrere Minuten. Sie habe nicht aufhören können. Erst als sich das Mädchen nicht mehr bewegt, lässt sie von ihr ab.

Bianca erzählt auch, wie sie in Panik gerät. Als sie ihre Kinder tot daliegen sieht, sei ihr erst das Ausmaß ihrer Tat bewusst geworden. Einen Ausweg suchend, plant sie einen Einbruch vorzutäuschen. Dabei öffnet Bianca das Fenster, verstreut die Kleider auf dem Boden, leert ihre Handtasche. Dann weckt sie Franz. Sie sagt ihm, dass sie komische Geräusche höre, dass jemand in der Wohnung sei.

Als er dann kurz darauf die Kinder tot in ihren Betten findet, wählt er sofort den Notruf. Er geht wirklich davon aus, dass ein Fremder seine Zwillinge umgebracht hat. Es trifft ihn wie ein Schlag, sagt er später, als ihn seine Frau während den Untersuchungen des Mordes beschuldigt. Und noch viel mehr als er realisiert, dass sie die Täterin ist.

Ein erschreckendes Geständnis, eines das den Anwesenden durch Mark und Bein geht. Doch Bianca ist noch nicht fertig. Sie lässt eine weitere Bombe platzen. Céline und Mario waren nicht ihre ersten Opfer. Sie hat schon davor getötet. Lisa, ihr erst sieben Wochen altes Mädchen. Auch sie stirbt, weil Bianca das so entschieden hat.

„Ich wollte einfach, dass sie mal ruhig ist“, sagt sie vor Gericht. Ihr Mann habe an diesem Tag gegen sechs Uhr morgens die Wohnung verlassen und sei zur Arbeit gefahren. Danach will sie duschen. Doch Lisa schreit und schreit, will nicht still sein. Bianca, damals 26 Jahre alt, hält ihr mit der Hand den Mund zu. Das Kind wehrt sich, schreit noch lauter und so drückte die Mutter noch fester zu. Bis Lisa ruhig ist.

Danach geht Bianca duschen. Als sie wieder herauskam, sei es extrem still gewesen, erinnert sie sich. Sie geht zu Lisas Bettchen und sieht ihre blauen Lippen. Sie habe sofort gewusst, dass das Kind tot ist.

Das Geständnis bringt Klarheit über die Täterin und den Ablauf, doch das Motiv bleibt vage. Mit Tränen in den Augen sagt Bianca: „Ich habe drei Kinder zur Welt gebracht und habe ihnen allen das Leben genommen.“ Sie könne nicht sagen, weshalb sie das getan habe. Nur, dass sie keine der Taten geplant habe.

Und dann gewährt sie einen Einblick in ihre Gedankenwelt. Sie sei auf die Zwillinge eifersüchtig gewesen. Seit Céline und Mario auf der Welt waren, hätten ihre Eltern wieder Kontakt zu ihr gesucht. Sie, die von ihrem Vater geschlagen und verprügelt und von ihrer Mutter ignoriert worden war, sei dabei aber nicht im Mittelpunkt gestanden. Stattdessen wandten sich die Eltern liebevoll den Enkelkindern zu. Das habe sie nicht ertragen.

Bianca erklärt auch, warum sie die letzten fünf Jahre alles abgestritten hat. Sie habe sich eingeredet, die Morde nicht begangen zu haben. Nur so hätte sie weitermachen können.

„Nun kann ich mit dieser Schuld aber nicht mehr leben“, sagt sie. Und: sie sehe sich selber als Monster. An diesem Prozesstag fehlt Franz im Gerichtssaal. Sein Anwalt erklärt später, er hätte es nicht verkraftet, die grausamen Details der Tatnacht mitanzuhören.

29. Januar 2013, ein Dienstag. Das Bezirksgericht in Horgen verkündet das Urteil. „Die Kinder hatten keine Chance“, eröffnet der Gerichtspräsident. Die Beschuldigte habe ihre Vertrauensstellung als Mutter missbraucht. Sie habe die ahnungslosen und wehrlosen Kinder, die sich auf Weihnachten freuten, im Schlaf überrascht. Die Taten habe sie mit erschreckender Entschlossenheit verübt und dabei eine außerordentliche Grausamkeit an den Tag gelegt. Das lasse nur ein Ergebnis zu: Ein Schuldspruch wegen mehrfachen Mordes und eine lebenslängliche Freiheitsstrafe.

Es ist die höchste Strafe im Schweizer Strafrecht. Nach frühestens 15, in speziellen Fällen nach 10 Jahren, kann eine bedingte Entlassung beantragt werden. Der Richter verfügt zudem eine ambulante Therapie für Bianca. Ein Gutachten attestiert der Zwillingsmörderin eine deutliche Persönlichkeitsstörung.

Das Gutachten stammt vom damals führenden Schweizer Gerichtspsychiater, Frank Urbaniok. Anlässlich des ersten Prozesses 2010 sagt er in einem Interview mit dem Schweizer Fernsehen: „Die Frau leidet an einem instabilen Realitätsbezug.“ Betroffene fühlten sich wenig der Realität verpflichtet. „Die Koppelung zwischen Wahrnehmung, Gedankenwelt und Emotionen ist für sie frei kombinierbar.“ Realität sei das, was sich für sie subjektiv gut anfühle. „In einem solchen Ökosystem hat auch der unglaubliche Gedanke Platz, dass es ein Vorteil ist, die eigenen Kinder umzubringen“, führt er den Befund aus.

Und auch bezüglich des Motivs findet Urbaniok eine Erklärung: „Sie hat die Komplexität ihres Lebens reduziert. Sie dachte, ein Leben ohne die Kinder wäre einfacher. Sie sagte wiederholt, dass sie die Kinder grundsätzlich ablehnte und ein gewisser Neid vorhanden war.“

Lebenslange Haft. Das erschreckt Bianca. Sie zieht ihren Fall erneut weiter. Ihr Anwalt setzt auf die Persönlichkeitsstörung, er will die ambulante Maßnahme in eine stationäre umwandeln. Dafür hat er gute Gründe. Eine stationäre Maßnahme bringt Bianca in eine geschlossene psychiatrische Einrichtung. Zeigt sie sich dort therapiewillig und wird sie als nicht mehr rückfallgefährdet eingestuft, ist die Entlassung schon nach fünf Jahren möglich. Die Freiheitsstrafe wird dann nicht mehr vollzogen.

2015

Es ist Frühling. Seit etwas mehr als sieben Jahren sind Céline und Mario tot. Und noch immer gibt es in ihrem Mordfall kein rechtsgültiges Urteil. Bianca hat den Fall bis ans Bundesgericht, der höchsten Schweizer Instanz, weitergezogen. Noch ist der Verhandlungstermin ausstehend. Und dann ist plötzlich alles vorbei. Bianca gibt auf. Am 27. April zieht sie ihren Antrag zurück. Das Urteil wird damit rechtskräftig. Zwei Jahre nach dem Geständnis und sieben Jahre nach dem Mord an Céline und Mario ist juristisch abschließend geklärt, wer die Tat begangen hat. Die eigene Mutter.

2022

Die Jahre sind ins Land gezogen. Der Zwillingsmord von Horgen findet sporadisch in der Öffentlichkeit Erwähnung. Immer dann, wenn es um die schlimmsten Verbrechen der Schweizer Kriminalgeschichte geht. Im Dezember ist es 15 Jahre her, seit die Kinder ihr Leben verloren haben.

Und genau so lange sitzt die Österreicherin nun in Haft. Einen großen Teil davon in der Justizvollzugsanstalt Hindelbank im Kanton Bern. Es ist die einzige Frauenhaftanstalt der Deutschschweiz. Mit dunkler Geschichte. In den alten Gemäuern wurden Frauen bis in die frühen 1980er Jahren ohne Urteil administrativ versorgt. Sie wurden weggesperrt, weil ihnen der Staat Arbeitsscheu, Müßiggang oder einen liederlichen Lebenswandel vorwarf. Sie mussten Zwangsarbeit leisten, das Entlassungsdatum war ungewiss.

Bei Bianca ist die Freiheit nun in greifbare Nähe gerückt. Nach 15 Jahren ist bei einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe ein Antrag auf bedingte Entlassung möglich. Doch wie geht ihr Leben dann weiter? Was tut eine Frau nach ihrer Freilassung, die sich während des Prozesses als „Monster“ bezeichnet? Bleibt sie in der Schweiz, wo sie keine Familie mehr hat? Geht sie zurück nach Österreich? Wird sie die Gräber ihrer Kinder besuchen?

Céline und Mario wären heute 22, Lisa 23 Jahre alt. Sie hätten eine Lehre oder das Gymnasium absolviert und würden ihr weiteres Leben planen. Ein Leben, vielleicht sogar mit eigenen Kindern. Ein Leben, das vor vielen Jahren ein jähes Ende fand.

  • ASIN ‏ : ‎ B0BK8HJ9T2
  • Herausgeber ‏ : ‎ True Crime International
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Seitenzahl der Print-Ausgabe ‏ : ‎ 300 Seiten