Der Mord an zwei Mädchen schockierte 1982 die Schweiz. Der Kristallhöhlen-Fall blieb ungeklärt und beschäftigt die Menschen bis heute. «Crime Schweiz» rollt den Fall in einer dreiteiligen Serie auf. Teil 1: Deshalb lässt die Tat die Bevölkerung bis heute nicht los.
«Hier lagen die Velos der beiden Mädchen, schön parallel, nichts deutet auf eine Gewaltanwendung hin.» Thomas Benz steht an der Kreuzung in Kobelwies in Oberriet SG und zeigt auf den nahen Wegweiser zur Kristallhöhle.
Am Nachmittag des 31. Juli 1982 hatte ein Autofahrer aus der Gegend die beiden 15- und 17-jährigen Mädchen noch vor diesem Wegweiser gesehen, etwas ratlos, als wüssten sie nicht, wohin sie fahren sollen. Am Abend, als der gleiche Autofahrer wieder an der Kreuzung vorbeifuhr, sah er am Wegrand die beiden Fahrräder, noch mit Gepäck auf dem Gepäckträger, aber ohne die beiden Mädchen. Über acht Wochen später, am 2. und 3. Oktober 1982, wurden ihre Leichen in der Nähe der Kristallhöhle unweit des Dorfes Oberriet gefunden.

Thomas Benz aus St. Gallen war achtjährig, als er die Bilder der vermissten Mädchen in der Zeitung sah. Seitdem beschäftigt ihn das Verbrechen. Als Schüler sammelte er alle Zeitungsausschnitte, schrieb in der Folge Leserbriefe und befasste sich ab dem Jahr 2000 beinahe «professionell», wie er sagt, mit dem ungeklärten Doppelmord im Rheintal, über den auch in der TV-Sendung «Aktenzeichen: XY … ungelöst» berichtet wurde. Warum diese Leidenschaft für ein Verbrechen, dessen Opfer er nicht persönlich gekannt hatte? «Ein solch schlimmes Kapitalverbrechen darf nicht vergessen werden», sagt er. Es gehe ihm nicht darum, den Täter strafrechtlich zu ahnden, dies sei juristisch gar nicht mehr möglich. Mordfälle verjähren nach 30 Jahren. Dies geschah 2012. Aber die Angehörigen und die Bevölkerung hätten ein Recht darauf, zu wissen, was an jenem 31. Juli 1982 geschehen war.
Als Benz die Recherchen über den Doppelmord über den Kopf wuchsen, gründete er zusammen mit einem ehemaligen St. Galler Kantonspolizisten im Januar 2018 die Interessengemeinschaft Kristallhöhlenmord. Sein Partner war zur Tatzeit Polizist gewesen und hatte mitgeholfen, nach den Mädchen zu suchen. Als Aktuar der IG organisierte er die privaten Ermittlungen von Grund auf neu. So sind bis jetzt rund tausend Seiten Dokumente, Presseartikel und Interviews mit Angehörigen, Bekannten und Anwohnern verfasst worden. Ziel der IG ist, das bisher ungelöste Verbrechen auf privater Basis neu aufzurollen und wenn möglich zu klären. Auf einen «20 Minuten»-Artikel hätten sich rund 300 Personen gemeldet. Viele hatten Interesse an der IG gezeigt, andere gaben Tipps und Hinweise.

Profiler in Oberriet
Der Doppelmord in Oberriet bewegt die Bevölkerung bis heute – 37 Jahre nach der Tat. In diesem Sommer hat Thomas Benz im Werkhof Oberriet eine Veranstaltung durchgeführt. Referent war der deutsche Profiler Axel Petermann, ein pensionierter Kommissar für Gewaltverbrechen aus Bremen und einer der bekanntesten Fallanalytiker, wie die Profiler in Deutschland genannt werden. Ein Profiler ist einer, der die Spur hinter der Spur sucht, wie Petermann am Abend erklärte.
Der Anlass war ein Erfolg, der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt.
Nahezu 200 Personen kamen an diesem heissen Sommerabend zum Werkhof. Die meisten Besucher schienen sich zu kennen. Bratwurst und Getränke wurden vor dem Werkhof verkauft, man diskutierte angeregt über das Verbrechen. «Der Mord ist hier immer wieder ein Thema», sagt ein Besucher, der extra aus Goldach, der Wohngemeinde der Mädchen, an die Veranstaltung gekommen war. Jedes Mal, wenn er am Friedhof in Goldach vorbeifahre, werde er an die Mädchen erinnert, obwohl er sie gar nicht persönlich gekannt habe. Eine andere Besucherin will endlich wissen, wer der Mörder sein könnte, und hofft, dass Petermann Hinweise dazu gibt.

Bild: Stefan Hohler.
Eine Erklärung, warum der Fall in der Bevölkerung immer noch so präsent ist, hat der im Rheintal aufgewachsene «Tages-Anzeiger»-Redaktor Beat Metzler; er war zum Zeitpunkt der Tat fünf. Von den Kristallhöhlen-Morden sei eine bedrohliche Stimmung ausgegangen. «Die Kinder in der Umgebung haben sich untereinander von der Tat erzählt. Auch Jahre später. Fast alle haben mit der Schule einmal die Kristallhöhle besucht. Das war ein unheimlicher Ort.» Dass der Täter nicht gefasst wurde, verstärkte den Horror. Es schien möglich, dass der Mörder ganz in der Nähe lebte und irgendwann wieder zuschlagen wird.
Lesen Sie morgen den zweiten Teil: Bei Kindern ging in den 1980er Jahren die Angst um