Im deutschsprachigen Raum schiessen Krimi-Podcasts aus dem Boden, der Streaming-Dienst Netflix lockt mit Serien über Verbrechen und Kriminelle Tausende vor die Bildschirme und auch Magazine wie «Zeit Verbrechen» oder «Stern Crime» setzen auf den Trend. Fiktion war gestern. «True-Crime»-Formate faszinieren den TV-Zuschauer wie noch nie zuvor. Doch was steckt hinter diesem Phänomen?
Der Blick in die Netflix-Hitliste der Schweiz von 2019 zeigt es deutlich: Unter den 10 beliebtesten Dokumentationen befinden sich gleich drei Filme, die sich mit Verbrechen beschäftigen. Das sind «Das Verschwinden von Madeleine MCCann», «Ted Bundy: Selbstportrait eines Serienmörders» und «Don’t F**k With Cats: Die Jagd nach einem Internet-Killer».
Dass sich Menschen mit Verbrechen und Grenzüberschreitungen beschäftigen, ist an sich nichts Neues. Nicht zufällig ist wohl eine der ersten Geschichten im Alten Testament jene eines Brudermordes. Direkt nach dem Sündenfall folgt mit dem Mord von Kain an Abel das erste Tötungsdelikt. Die Faszination für menschliche Abgründe, aber auch die Befriedigung, die wir aus der vermeintlichen Gewissheit ziehen, dass am Ende Gut über Böse siegt, sind so alt wie die Menschheitsgeschichte.
Neben religiösen Erzählungen sind auch Märchen und Mythen Ausdruck unserer Faszination für die dunkle Seite der menschlichen Psyche, genauso wie der Pranger oder öffentliche Hinrichtungen im Mittelalter.
Das Böse ist aus unserem Alltag verschwunden
Doch woher nun die plötzliche Lust, sich mit wahren Verbrechen in Form von Podcasts, Büchern oder Serien zu beschäftigen? Im Jahr 2018 wurden schweizweit 1’425 schwere Gewaltstraftaten registriert, bei 50 davon handelte es sich um vollendete Tötungsdelikte, was dem Durchschnitt der letzten Jahre entspricht. Mehr als die Hälfte der vollendeten Tötungsdelikte fand im häuslichen Bereich statt, somit kannten sich Opfer und Täter. Bei einer Wohnbevölkerung von gut 8,6 Millionen kommt gerade mal ein Tötungsdelikt auf 172’000 Menschen. Das ist nicht viel.
Wir leben in einer Zeit, in der in der Schweiz das Böse weitgehend aus unserem Alltag verschwunden ist: Kriege, Terror, Folter und Tod erleben wir nicht am eigenen Leib, sondern nur in Form von Bildern, die uns – medial gefiltert – über die Nachrichten erreichen. Die Orte des Schreckens sind zwar nur wenige Flugstunden entfernt und gleichzeitig weit weg von unserem Leben in Sicherheit.
In einer Welt, in der das Leben der meisten in geregelten Bahnen verläuft, suchen wir nach Alternativen, uns mit «dem Bösen» auseinanderzusetzen. Aus sicherer Distanz gruseln wir uns auf dem Sofa oder dem Weg zur Arbeit: Wir verfolgen blutige Taten und fürchterliche Abgründe, ohne uns dabei selbst einer Gefahr auszusetzen.
Emotionale Extreme in geballter Form
Die Beschäftigung mit «dem Bösen» ist nichts anderes, als die Beschäftigung mit der menschlichen Natur: Wer sich für die menschliche Psyche interessiert, kommt zwangsläufig auch mit deren Schattenseiten in Berührung. Was macht einen Menschen zum Mörder? Welche Umstände führen zu Taten, die auf den ersten Blick unbegreiflich erscheinen?
Angst, Gier, Wut, Rache, Eifersucht: True Crime lebt von starken Emotionen, verdichtet zu einer dramatischen Geschichte. Tötungsdelikte stellen die Extreme unseres emotionalen Spektrums in geballter Form dar und verfügen oft über ein packendes Narrativ. Sie spielen sich in einem überschaubaren Rahmen ab, haben einen Anfang und ein Ende, bestehen aus einer in sich geschlossenen Handlung, erzählen von Hauptfiguren, die starke Emotionen in uns auslösen.

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Die Bestie in uns
Möglicherweise hilft uns «True Crime» auch dabei, uns selbst zu vergewissern, dass in uns selbst keine Bestie schlummert. Eine gewisse – zumindest theoretische – Mordlust ist vielen nicht ganz fremd: Weitaus mehr als die Hälfte der Menschen, die im Jahr 1993 an einer Studie der Arizona State University teilnahmen, gaben im Rahmen der Befragung an, sich mindestens gelegentlich der Fantasie hinzugeben, jemanden zu töten. Wenn Sie also schon mal darüber nachgedacht haben, dem nervigen Chef ein Messer in die Brust zu rammen oder dem Ex-Geliebten eine Flasche über dem Schädel zu zerschlagen, sind Sie in guter Gesellschaft.
Die meisten von uns sind allerdings in der Lage, ihre Impulse zu kontrollieren und ihren Mords-Fantasien keine Taten folgen zu lassen. Doch alleine das Vorhandensein dieser Fantasien zeigt: Möglicherweise schlummert in jedem von uns ein Mörder, wie Julia Shaw in ihrem Buch «Böse. Die Psychologie unserer Abgründe» schreibt: «Vielleicht besteht der einzige Unterschied zwischen Ihnen und einem Serienmörder in einem vollständig funktionierenden präfrontalen Kortex, der Sie im Unterschied zu diesem dazu befähigt, Ihr Verhalten zu kontrollieren.»
Denn: So stark wie wir es auch gerne hätten, unsere Gehirne unterscheiden sich von jenen von Verbrechern nicht wirklich. Ein Mörder lebt laut Shaw an 364 Tagen im Jahr ein normales Leben. Nur eben am 365. nicht. Das mag auch erklären, weshalb sich um gewisse Serienmörder wie Charles Manson ein wahrer Personenkult etablieren konnte. Ganz fremd sind uns die sogenannten «Bestien» manchmal vielleicht gar nicht.
Indem wir True Crime konsumieren, können wir dieser Seite unserer Persönlichkeit ein bisschen mehr Raum geben – ohne, dass jemand Schaden nimmt. Gleichzeitig können wir uns von diesem Teil unserer Psyche distanzieren, denn wir solidarisieren uns viel stärker mit den Opfern eines Verbrechens als mit den Tätern.
«True Crime» für weibliche Hobby-Detektive
Nicht zuletzt bedient «True Crime» auch eine urmenschliche Lust am Rätseln, am Aufdecken von Verborgenem, am beseitigen von Unsicherheiten: Am Schluss eines «True-Crime»-Falls fügen sich die Puzzle-Teile zu einem zwar schauder- aber auch sinnhaften Ganzen. Unser Urbedürfnis nach Verstehen-Wollen wird ebenso befriedigt, wie die behagliche Sicherheit, die wir aus der Tatsache schöpfen, dass am Ende der Täter seiner gerechten Strafe zugeführt, die Ordnung wiederhergestellt wird.
Ein grosser Teil des « True-Crime» Publikums ist überraschenderweise weiblich: Eine Studie der University of Illinois kommt zum Schluss, dass es zu einer überwiegenden Mehrheit Frauen sind, die sich für «True Crime» interessieren. Entsprechende «Amazon»-Bewertungen stammen laut der Untersuchung zu 70 Prozent von einer weiblichen Leserschaft. Das mag insofern überraschen, als dass Männer von Tötungsdelikten deutlich stärker betroffen sind: 95 Prozent der Täter und 79 Prozent der Opfer sind männlich. Die Studie liefert auch gleich eine mögliche Erklärung des Phänomens: Frauen könnten sich durch die Beschäftigung mit «True Crime» unbewusst vor Angriffen schützen, weil sie daraus Informationen beziehen können, wie man selbst nicht zum Opfer wird.
Auch die die 76-jährige schweizerische Psychologieprofessorin Verena Kast, die unter anderem über die tiefenpsychologische Seite von Märchen und Mythen forscht, kommt gegenüber der «Zeit» zum Schluss, dass Frauen sich von Kriminalgeschichten stärker angezogen fühlen als Männer. Märchen erzählten von Gewalt und Angst, «aber vor allem davon, wie man die Angst besiegen kann». Deshalb seien Frauen an Kriminalgeschichten stärker interessiert als Männer: «Sie haben einen besseren Zugang zu den eigenen Gefühlen. Sie stellen sich ihrer Angst.»

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Bleibt die Frage, warum «True Crime» gerade jetzt so populär ist. Der überragende Erfolg der ersten Staffel des US-Podcasts «Serial» (Chicago Public Radio), quasi die Mutter aller «True-Crime»-Podcast, hat sicherlich viel zum Durchbruch des Formats beigetragen. Seit der Erstausstrahlung 2014 hat «Serial» einen Einfluss geltend gemacht, der weit über die mediale Darstellung von Verbrechen hinausreicht. Adnan Syed, der Beschuldigte in einem Mordfall, erhielt ein neues Gerichtsverfahren, nachdem der Podcast Justizirrtümer aufgedeckt hatte. Ein solcher Erfolg ruft Nachahmer auf den Plan. Der grosse Erfolg von Podcasts als eigenständiges Medium mag dem Format zusätzlich zum Erfolg verholfen haben. Ein Ende ist vorerst nicht in Sicht.
Die Lieblings-«True Crime» Formate der Redaktion:
Podcasts: «Zeit Verbrechen», Mordlust
Bücher: Truman Capote: Kaltblütig
Serien: Making a murderer

Die Psychologie unserer Abgründe
- Erscheinungsdatum: 24.09.2018
- 320 Seiten
- Hanser Verlag
- Fester Einband
- ISBN 978-3-446-26029-0