Jürg Boll, als «Raser-Jäger» der Zürcher Staatsanwaltschaft bekannt geworden, tritt von seinem Amt zurück. Aber er kämpft weiter – auch gegen zu viele Tempo-30-Zonen.
Der Gerichtsprozess beginnt mit einem Lächeln und einem Handschlag – so begrüsst Staatsanwalt Jürg Boll jeweils die meist jugendlichen Raser. Wer aber meint, dass nun auch ein wohlmeinender Strafantrag folgt, irrt sich. Wenn es ums Strafmass geht, ist Boll knallhart.
Dies hat Anfang Dezember ein 31-Jähriger erfahren müssen, der wegen einer ganzen Reihe von schweren Verkehrsdelikten vor dem Bezirksgericht Zürich stand. Das Gericht verurteilte ihn antragsgemäss zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zwei Jahren bei einer Probezeit von vier Jahren. Dazu kommt ein langer Fahrausweisentzug. «Damit ist unser Ziel erreicht, und der Mann ist für lange Zeit von der Strasse», sagte Jürg Boll nach dem Prozess zur NZZ.
Es war sein letzter Prozess als ordentlicher Staatsanwalt. Ende Jahr tritt der 67-jährige Leiter des Fachbereichs Verkehr von seinem Amt zurück. Diese landesweit einmalige, fünfköpfige Behörde wurde 2005 von der Oberstaatsanwaltschaft ins Leben gerufen. Dass Boll ihre Leitung übernahm, war nur logisch.
Er hatte bereits 1999 das Standardwerk «Grobe Verkehrsregelverletzung» verfasst. Er habe damals festgestellt, dass es nur wenig Literatur dazu gab, obwohl Strassenverkehrsdelikte fast die Hälfte aller Fälle ausmachen, mit denen sich die Staatsanwaltschaften befassen. Boll befasste sich intensiv mit dem Thema, wurde zum Experten.
Autos gelten heute als Tatwaffen
Das grosse Verdienst von Jürg Boll und der Verkehrsgruppe ist, dass heute ein Verkehrsunfall nicht mehr als «Nichtbeherrschen des Fahrzeugs» oder als Kavaliersdelikt bewertet wird, sondern dass bei Geschwindigkeitsexzessen die Polizei ermittelt, Spuren sucht und sichert. Ähnlich wie bei Gewalt- oder Sexualdelikten.
Heute können Autos als Tatwaffen konfisziert und Raser wegen eventualvorsätzlicher Tötung verurteilt werden. In den letzten 15 Jahren hat Boll Hunderte von ihnen vor Gericht gebracht. Meist sind es junge Männer zwischen 20 und 40 Jahren, ein Grossteil Ausländer, vor allem aus dem Balkan.
Dass es bei Raserprozessen fast immer zu einem Schuldspruch kommt, ist der guten Beweislage zu verdanken. Wenn der Beschuldigte nicht geständig ist, lassen Boll und seine Mitarbeiter ein verkehrsdynamisches Gutachten erstellen, welches bei den Gerichten einen hohen Stellenwert hat.
Dabei stützen sich die Gutachter einerseits auf Schadensbilder von dokumentierten Crashtests, andererseits auf das Spurenbild vor der Kollision. Die Experten rechnen rückwärts und untersuchen die Fahrweise, die zum Unfall führte. Sie tun das zum Beispiel anhand von Reifenspuren auf der Strasse oder untersuchen, ob der Lenker das ESP (Stabilisierungsprogramm) des Wagens ausgeschaltet hat, damit er rennmässig beschleunigen kann.

Bild: Kantonspolizei Zürich
Zudem liefern im Zeitalter der sozialen Medien viele Raser die Beweise gleich selbst. Sie lassen ihre Tempoexzesse vom Beifahrer filmen oder filmen sich selber und teilen die Aufnahmen im Kollegenkreis. In rund der Hälfte aller Raserfälle werden die Tempobolzer letztlich dank selbst gedrehter Handy-Videos überführt.
Das Problem mit Tempo 30
Der Mann, der Raser das Fürchten lehrt, wird in bestimmten Fällen zum Fürsprecher von jenen, die deutlich zu schnell unterwegs sind: sobald es um Tempo-30-Zonen geht. In reinen Wohnquartieren hat Boll nichts gegen dieses Geschwindigkeitslimit. Wenn es aber wie in der Stadt Zürich auf Hauptstrassen signalisiert wird, obwohl dies aus Sicherheitsgründen nicht notwendig wäre, komme es zu unverhältnismässigen Sanktionen.
Bolls Beispiel: ein «normaler Autofahrer», der erwischt wird, während er mit 55 km/h unterwegs ist, weil er glaubt, im Tempo-50-Bereich zu fahren. Dieser wird wegen grober Verkehrsregelverletzung verurteilt und muss das «Billett» für drei Monate abgeben. Schon 51 km/h genügen für einen Ausweisentzug von einem Monat. So was könne bei Handwerkern oder Aussendienstmitarbeitern zum Stellenverlust oder anderen sozialen Problemen führen, warnt Boll im «Tages-Anzeiger». Obwohl sie niemanden gefährdet haben, sondern nur einen Augenblick nicht auf das Verkehrszeichen achteten.
Der Kampf gegen das Fahren unter Drogen
Dass Boll in den Medien oft als Raserjäger betitelt wird, stört ihn nicht. Obwohl es den Kern seiner Arbeit nicht trifft: Geschwindigkeitsexzesse seien zwar die spektakulärsten Fälle, mit denen er sich befasst, aber gering an der Zahl. Für viel mehr Unfälle verantwortlich sei das «Fahren in fahrunfähigem Zustand», betont er. Auch hiergegen hat Boll etwas unternommen, indem er an neuen Methoden mitwirkte, mit einem Team aus Vertretern von Rechtsmedizin, Verkehrspolizei und Strassenverkehrsamt.

Bild: Andrea Zahler/Tages Anzeiger.
Eine der Konsequenzen: Die Polizei hörte auf, bei Verkehrskontrollen Speichelproben zu nehmen, um diese auf Drogen zu untersuchen. Diese Schnelltests hatten eine Trefferquote von weniger als 50 Prozent – weshalb Boll sich den faulen Spruch anhören musste, dass es erfolgversprechender wäre, eine Münze zu werfen. Zudem erfassten die Drogenschnelltests vor allem Heroin, Kokain, Amphetamin und Cannabis, nicht aber andere Drogen.
Der neue Ansatz bestand darin, Polizisten so zu schulen, dass sie fahrunfähige Personen ohne Test erkennen. Sie achten unter anderem auf die Aussprache, die Reaktion der Pupillen, unsicheres Auftreten oder auffälliges Verhalten. Bei Verdacht rufen sie den Pikett-Staatsanwalt an, der eine Blut- und Urinprobe beim Institut für Rechtsmedizin oder im Spital anordnet. Das überzeugende Resultat: eine Trefferquote von rund 90 Prozent.
Auch nach seinem Rücktritt als ordentlicher Staatsanwalt wird sich Jürg Boll intensiv mit Verkehrsdelikten befassen. Er hält Vorträge vor Polizisten, doziert an der Staatsanwaltsakademie, publiziert auf seinem Fachgebiet. Und er beobachtet, was auf dem politischen Parkett diskutiert wird: Boll kann überhaupt nicht verstehen, dass der Raserartikel gelockert werden soll, der eine mindestens einjährige Freiheitsstrafe und den Ausweisentzug von zwei Jahren vorsieht. «Hier geht es effektiv um Verkehrssicherheit. Rasen ist immer ein Vorsatzdelikt.»