Der Mord an zwei Mädchen schockierte 1982 die Schweiz. Der Kristallhöhlen-Fall blieb ungeklärt und beschäftigt die Menschen bis heute. «Crime Schweiz» rollt den Fall in einer dreiteiligen Serie auf. Teil 3: Der Profiler vermutet eine zufällige Tat.

Der renommierte deutsche Profiler Axel Petermann ist einer, der die Spur hinter der Spur sucht. Bei einer Veranstaltung in Oberriet SG diesen Sommer sprach er über seine Theorien. Petermann vermutete, dass es sich um eine spontane «Zufallstat» gehandelt habe. Der Täter sei ein eher strukturierter, planender Mensch gewesen. Ein kräftiger, dominierender, aber an seiner Macht zweifelnder Mann im Alter zwischen 28 und 35 Jahren mit sehr guten Ortskenntnissen. Ein Mann, der seine Gewalt unter Kontrolle hatte und nur auf den Endzweck gerichtet einsetzte. Sexuell inkompetent, aber keine pädophilen oder sexistischen Neigungen, so fasste die Zeitung «Der Rheintaler» die Ausführungen des deutschen Profilers zusammen. 

Architekt in Untersuchungshaft

Die Fundorte waren nicht die Tatorte. Karin wurde in einer Höhle elf Meter unter dem Eingang der Kristallhöhle gefunden. Um dorthin zu gelangen, muss man sich von der Kristallhöhle abseilen. Brigitte lag etwa 50 Meter davon entfernt in einem Wurzelstockloch, zugedeckt mit einer mindestens 300 Kilogramm schweren Steinplatte. «Der Täter muss sich in der Gegend gut ausgekannt haben und kommt aus der Gegend», ist Petermann überzeugt. Thomas Benz betont, dass Petermanns Gewichtsberechnungen der Steinplatte neu sind. In der Vergangenheit war immer von einem Gewicht von 50 bis 80 Kilogramm die Rede gewesen. «Das heisst, dass der Täter Komplizen hatte, die ihm beim Abtransport und Verstecken der Körper halfen – insbesondere im Fall von Brigitte.» 

Schon nach dem Auffinden der beiden Leichen hatte die St. Galler Kan­tons­polizei ähnliche Schlüsse gezogen. Sie vermutete, dass bei Brigitte, die mit nacktem Unterkörper gefunden wurde, ein Sexualdelikt vorlag. Ihre jüngere Freundin Karin war dagegen gänzlich bekleidet. Die Polizei ging eher von mehreren ortskundigen Tätern aus.

Die Fundorte bei der Kristallhöhle waren nicht die Tatorte.
Bild: Stefan Hohler

Über die mögliche Täterschaft gab es etliche Mutmassungen. Hauptverdächtige waren vier Personen: ein damals 42-jähriger Architekt, der einen silbergrauen Mercedes besass. Er wurde verhaftet und nach halbjähriger Untersuchungshaft wieder freigelassen. Weitere Verdächtige waren ein Gastwirt, der als nebenamtlicher Höhlenwart tätig war, ein Chauffeur und ein weiterer Höhlenwart. Doch bei keinem der Verdächtigen konnte die Polizei eine Tatbeteiligung nachweisen. Der Doppelmord war auch Vorlage für zwei Bücher. So hatte der bekannte Autor und ehemalige «Blick»-Journalist Arthur Honegger im Jahr 2000 einen Roman mit dem Titel «Zwillinge» geschrieben. Dabei verschwinden in einem Dorf Zwillinge. Das ganze Dorf ist wie gelähmt, bis die Kinder tot aufgefunden werden. Die Vermutung wird Gewissheit: «Der Mörder ist unter uns.» 14 Jahre später wird der Doppelmord in einem weiteren Buch aufgegriffen: «Kristallhöhle» heisst der fiktive Kriminalroman von Peter Beutler. In Beutlers Roman führt eine Verkettung von unglücklichen Umständen zum Doppelmord, kein lang gehegter Plan.

Das letzte Bild der beiden Mädchen. Eine unbekannte Person hatte auf ihrer Vetotour mit der Kamera der Mädchen fotografiert.
Bild: PD

Alles für den Kristallhöhlenmord

Seit rund 20 Jahren dreht sich bei Thomas Benz beinahe das ganze Leben um die beiden Kristallhöhlenmorde. Es seien schon private Beziehungen in Brüche gegangen, so der 44-Jährige, weil er sich in der Freizeit ständig um den Fall gekümmert hat. Benz hat mit Angehörigen gesprochen, mit Verdächtigen, mit Polizisten, mit Untersuchungsrichtern und mit Rechtsmedizinern – immer in der Hoffnung, fehlende Puzzleteile zum ungelösten Verbrechen zu finden. Er hat sogar Kleiderpuppen das Tobel hinauf zu den Fundorten getragen, um herauszufinden, ob dies für einen einzelnen Täter möglich gewesen wäre. Mit der vor einem Jahr gegründeten Interessengemeinschaft hat er die Arbeit auf weitere Freiwillige verteilt. Von einem Ende will er nichts wissen. Er räumt aber ein, dass mit dem Vortrag des Profilers «ein Stück Abschluss» gemacht worden sei. Benz ist stolz über den Anlass, er habe ein Riesenecho ausgelöst. 

Ihn ärgert, dass die Polizei nach der Verjährung der Tat die Asservaten der beiden Mädchen (Kleider, Spurenträger  und so weiter) vernichtet hat. DNA-Spuren, die damals noch nicht bekannt waren, könnten allenfalls weiterhelfen, auch wenn der Täter strafrechtlich nicht mehr belangt werden kann. Benz ist der Meinung, dass der Doppelmordfall hätte gelöst werden können. Die Polizei habe zu wenig koordiniert zusammengearbeitet und die Untersuchung zu schnell ad acta gelegt. Der Fall sei schon Ende der 80er-Jahre nicht mehr aktiv weiterverfolgt worden. Dies sei bei einem solch tragischen Kapitalverbrechen nicht nachvollziehbar.

In Walter Hausers Buch «Hoffen auf Aufklärung» kommt auch der heutige Bundesrichter Niklaus Oberholzer zum Doppelmord zu Wort. Oberholzer war damals Untersuchungsrichter und hat ein Jahr nach der Tat die Leitung des Verfahrens übernommen. Offen räumt der heute 66-Jährige ein, dass die Polizei angesichts des enormen öffentlichen Interesses überfordert gewesen sei. Sie habe keine einheitliche Einsatzdoktrin gehabt, und nicht alle hätten am gleichen Strick gezogen. 

Zudem habe in der Ortschaft Kobelwies wie in einem sizilianischen Dorf das Gebot des Schweigens gegolten; er habe in seiner Laufbahn «noch nie so viele dubiose Gestalten» befragen müssen. Dem kann Benz nur zustimmen. Er ist überzeugt, dass es kein Alleintäter war. Es müsse Komplizen gegeben haben, welche beim Verstecken der Leichen mitgeholfen hätten. Benz fragt sich immer wieder: «Wie können diese Leute 37 Jahre lang schweigen?»