Am 25. Januar 1990 rücken der Polizeichef von Bülach und sein Stellvertreter zu einem Fall von häuslicher Gewalt aus. Sie sollen einen Mann daran hindern, in die Wohnung seiner Ex-Frau einzudringen. Vor Ort eskaliert die Situation. Mit vier Schüssen tötet der Mann den Polizeichef und schiesst seinem Stellvertreter Günther Prassl (damals 31) in den Hals. Dieser überlebt schwerverletzt – aber leidet noch heute an den Folgen.

«Die Splitter stecken in meinem Hals, in meiner Schulter und in meinem Arm», erzählt Günther Prassl (64) ruhig und gefasst. In seiner Stimme ist ihm nichts anzumerken, dass ihn der Jahrestag aufwühlt. Doch seine Worte bringen es zum Ausdruck: «Diese Tat hat mein Leben massgeblich verändert. Sie zu verarbeiten, hat mich stark gemacht. Dafür musste ich aber durch dunkle und schwierige Momente.»

Günther Prassl ist ein Überlebender. Seit 33 Jahren. Bis heute lassen ihn die Ereignisse an diesem verhängnisvollen Januartag vor 33 Jahren nicht los. Als Geschäftsstellenleiter einer Signalisations- und Markierungsfirma arbeitet er mittlerweile in Winterthur. In einem Jahr wird er offiziell pensioniert. Für ihn ist es deshalb der richtige Zeitpunkt, um noch einmal über den Angriff und über das, was danach passiert ist zu sprechen.

Schwer verletzt den Täter überwältigt

Prassl lebt damals nur 100 Meter vom Tatort entfernt. «Mein Chef rief mich gegen 18 Uhr an und sagte, er brauche Verstärkung», erinnert er sich. Damals arbeitet Prassl seit vier Jahren als Gemeindepolizist und Stellvertreter des Polizeichefs bei der Stadtpolizei Bülach. In der Zeit war es üblich, alleine zu Notrufen auszurücken. «In diesem Fall wusste mein Chef aber, dass er Hilfe brauchen würde», berichtet er weiter.

Auslöser für den Notruf ist ein 44-jähriger Schweizer. Der Mann poltert im Treppenhaus eines Mehrfamilienhauses an die Wohnungstüre seiner Ex-Frau. Der Immobilienmakler ist bereits in der Vergangenheit wegen ähnlicher Vorkommnisse verwarnt und weggewiesen worden. Prassl und sein Vorgesetzter treffen im Treppenhaus auf den Mann. «Es gelang uns, ihn zu beruhigen und völlig normal mit ihm zu sprechen. Er war ruhig und die Lage war unter Kontrolle. Danach geleiteten wir ihn aus dem Haus», so Prassl. Die beiden Polizisten bringen den Mann zu einem warteten Taxi und er steigt ein. Doch genau in diesem Moment erscheint seine Ex-Frau beim Wohnhaus. «Da ging alles ganz schnell und er zückte die Waffe. Ich habe noch versucht, die Wagentüre zuzudrücken. Aber es löste sich ein Schuss, der mich in den Hals traf.» Prassl sackt bewusstlos zusammen. «Als ich wieder zu mir kam, sah ich wie er auf meinen Chef schoss. Er traf ihn zweimal in den Kopf und zweimal in den Oberkörper. Ich wusste sofort, dass er tödlich getroffen war.»

1990 war Günther Prassl stellvertretender Polizeichef bei der Stadtpolizei Bülach. Mobiltelefone und Funkgerät gab es damals nicht. Das einzige Kommuniktionsmittel war ein Autotelefon. Die beiden Männer waren an diesem Abend aber zu Fuss unterwegs.
Bild: Zvg

Der damals 31-jährige Polizist rafft sich auf, nimmt alle Kraft zusammen und rennt auf den Täter zu. Dieser richtet noch einmal die Waffe auf ihn, drückt ab – doch die Munition ist bereits verschossen. Prassl wirft sich auf den Täter. Er überwältigt ihn und fesselt ihn an einen Baum. 1990 gab es noch keine Mobiltelefone und die Gemeindepolizisten waren nicht mit Funk ausgerüstet. «Was mich wirklich schockierte: Ich bemerkte, wie die Rollläden der Wohnungen heruntergelassen wurden. Da stand ich also, angeschossen und auf mich alleine gestellt.» Es bleibt ihm nur eine Lösung: «Ich stellte mich auf die Strasse und stoppte ein vorbeifahrendes Auto. Der Fahrer brachte mich ins Spital Bülach.» Bis Prassl schliesslich operiert werden kann, vergehen weitere eineinhalb Stunden. Das Projektil allerdings können die Ärzte nicht entfernen. «Der Täter hatte ein Hohlspitzmantelgeschoss verwendet. Bei dieser Munition deformiert sich die Patronenhülle beim Eintritt in den Körper. Es waren einfach zu viele Splitter an heiklen Stellen.»

Täter stand nie vor Gericht

Als sich Prassl auf dem Weg ins Spital befindet, rückt ein Polizei-Grossaufgebot an den Tatort aus. Der Schütze wird vor Ort verhaftet. «Ein Bluttest ergab, dass der Mann stark alkoholisiert war.» 3,2 Promille hatte er im Blut. Sein Anwalt nützt diesen Wert für seine Verteidigungsstrategie. «Er machte eine Schuldunfähigkeit geltend. Das zog sich ganze drei Jahre hin», so Prassl weiter. Schliesslich stürzt der Mann betrunken eine Treppe hinunter und stirbt. Unfall oder Gewaltdelikt? Im Ermittlungsverfahren zählt Prassl zunächst zu den verdächtigten Personen. «Ich wurde damals tatsächlich nach einem Alibi gefragt», ärgert er sich noch heute. «Aber viel schlimmer war, dass damit mein Fall eingestellt werden musste.» Stirbt ein Beschuldigter wird in der Schweiz das Untersuchungsverfahren in der Regel eingestellt. Doch ohne Schuldspruch können geschädigte Personen keine Schadensersatz- und Genugtuungsforderungen geltend machen. Für den jungen Polizisten Prassl bedeutete das eine unsichere finanzielle Zukunft.

Prassl verlässt zwar schon nach fünf Tagen das Spital und nimmt einen Monat später wieder seine Arbeit auf. Durch die schwere Schussverletzung entwickelte sich bei ihm aber eine ausgeprägte Arthritis. «Ich hatte immer wieder Entzündungen und starke Schmerzen. Wurde über Jahre mit Kortison behandelt, worauf ich viel an Gewicht zulegte», erzählt er. «Der Aussendienst war nach einer gewissen Zeit einfach nicht mehr möglich.» Prassl wechselt in den Innendienst. Fragt sich aber immer, ob er der Arbeit als Polizist überhaupt noch gerecht werden kann. Er vergräbt sich in der Arbeit, woran schliesslich auch seine Ehe scheitert. Die Tat verändert ihn auch innerlich stark. «Wenn du so etwas erlebst, siehst du überall mögliche Gefahren. Das blockiert.»

Zunächst greift die Stadt Bülach Prassl finanziell unter die Arme und stellt die Anwaltskosten. Schliesslich muss er auch noch gegen die Versicherungsgesellschaft vor Gericht ziehen. Es geht um die weitere Kostendeckung der nötigen ärztlichen Behandlungen. Doch 15 Jahre nach der Tat werden die Zahlungen eingestellt. «Es ist möglich, dass die Splitter in meinem Körper wandern und Schaden anrichten können. Sollte das passieren und ich bin auf Pflege oder ähnliches angewiesen, zahlt das niemand.» Sein Antrag bei der Invalidenversicherung (IV) bringt Prassl einen Rentenanspruch von fünf Prozent. Als Prassl 2007 schliesslich aus dem Polizeidienst austritt, plagen ihn grosse Existenzängste. «Ich wusste wirklich nicht, ob ich finanziell wieder auf die Beine komme und ich fühlte mich schlecht betreut.»

Mangelnde Hilfestellung für Gemeindepolizisten?

Neben den körperlichen Beschwerden geht es Prassl heute gut. Sein neuer Beruf macht ihm Freude, er ist finanziell abgesichert. Er kann sich auf seine Pension freuen. Mit dem Blick zurück, stellt er sich aber die Frage, ob er etwas hätte anders machen können? «Wir hätten den Mann abtasten müssen. Dann hätten wir die Waffe entdeckt», sagt er.

Günther Prassl leidet heute noch unter den gesundheitlichen Folgen der Tat. «Vor zwei Wochen hatte ich wieder einen Arthritis-Schub.» Bild: Zvg

Und noch ein Punkt ist ihm wichtig: «Polizisten, die angeschossen werden, dürfen nicht mehr in den aktiven Dienst zurück. Das ist einfach zu gefährlich. Viele wollen sich das auch selber gar nicht eingestehen. Und genau deshalb ist eine intensive Betreuung wichtig.» Bei vielen Gemeindepolizeien sieht hier Prassl noch immer dringenden Handlungsbedarf. «Grosse Polizeikorps sind gut aufgestellt. Betroffenen bekommen schnell die wichtigen Betreuungspersonen wie Psychologen oder Berater zur Seite gestellt werden. Eine kleine Gemeindepolizei hat das nicht. »

Prassl nimmt deshalb den Staat in die Verantwortung: «Diese Hilfe muss für alle Betroffenen zur Verfügung stehen. Und zwar nachhaltig und nicht nur während der ersten Monate. Für Betroffene braucht es attraktive Innendiensstellen oder die Finanzierung einer Umschulung. Schliesslich sind sie bei der Ausübung des Dienstes zu Schaden gekommen. Und die Folgeschäden sollten dann doch auch durch den Staat abgefedert oder ganz gedeckt werden.»