Es gibt sie, diese Kriminalfälle, die sich ins öffentliche Gedächtnis brennen: Durch ihre Grausamkeit, durch aussergewöhnliche Umstände, durch ihre scheinbare Willkür. Reisen an solche Orte mit dunkler Vergangenheit sind im Trend und haben einen Namen: Dark Tourism. Und den gibt es auch in der Schweiz.
Diese Verbrechen ziehen uns in ihren Bann, erst recht, wenn die Angriffe von schillernden Tätern verübt wurden oder das Opfer einen bekannten Namen trug. Was zurückbleibt sind die schaurigen Tatorte. Hier kann man hinter die scheinbar glatte Fassade der Menschen blicken und versuchen die Abgründe zu verstehen, die sich dahinter auftun.
Es überrascht nicht, dass diesen Tatorten, an denen mysteriöse oder aufsehenerregende Morde verübt wurden, ein grosses Faszinosum anhaftet. Mittlerweile gibt es in Städten wie Los Angeles oder Berlin einen richtiggehenden Tatort-Tourismus mit geführten Touren, die Interessierte an die Schauplätze bringen. Ein Beispiel, dem weltweit weitere Städte folgen. «Crime Schweiz» beschreibt fünf Orte des Verbrechens, die die Menschen nicht mehr loslassen.
Die Villa von Nicole Brown Simpson, Brentwood, Los Angeles, Kalifornien
Der Jahrhundertprozess um O.J. Simpson bewegte die Gemüter. 1994 wurde der ehemalige Footballspieler und Schauspieler des Mordes an seiner Exfrau Nicole Brown Simpson und deren Bekannten Ronald Goldman angeklagt. Bereits die Verhaftung war ein Spektakel: Die Verfolgungsjagd am 17. Juni 1994 quer durch Beverly Hills wurde live im US-Fernsehen übertragen. In einem nicht weniger Aufsehen erregenden und umstrittenen Prozess, der ebenfalls live vom Fernsehen übertragen wurde, verfolgten Millionen Menschen weltweit, wie O.J. Simpson am 3. Oktober 1995 von den Geschworenen frei gesprochen wurde.
Inwieweit der Prozess und insbesondere das Jury-Urteil auch von Rassenkonflikten beeinflusst wurden, war Gegenstand vieler Diskussionen und sorgte für Zündstoff in der ohnehin aufgeladenen Rassismusdebatte in den Vereinigten Staaten.
Das Urteil war höchst umstritten, die Tat ist bis heute nicht richtig aufgeklärt. In Fernseh-Interviews und in einem Buch mit dem Titel «If I did it» legte Simpson ein hypothetisches Geständnis ab. Nach dem Gesetztes-Grundsatz «Ne bis in idem», der auch im US-amerikanischen Recht seine Gültigkeit hat, kann jemandem jedoch für ein Verbrechen nicht zweimal der Prozess gemacht werden.
Der Tatort, Nicole Browns Haus, existiert in seiner damaligen Form nicht mehr. Das Gebäude am 875 Bundy Drive im kalifornischen Brentwood wurde vom neuen Besitzer komplett umgebaut, die Adresse in 879 Bundy Drive geändert und der Gehweg verlegt. Diese Massnahmen sind der Tatsache geschuldet, dass ein enormes öffentliches Interesse am Ort bestand. Und immer noch besteht. Es gibt mehrere geführte O.J.-Simpson-Tatort-Touren. Darunter sogar eine, in der die Teilnehmer in einem 1994er Ford Bronco gefahren werden. Mit einem solchen Auto versuchte Simpson damals vor der Polizei zu flüchten.
„Der O.J.-Simpson-Fall vereint in sich alle Themen, von denen die amerikanische Gesellschaft besessen ist. Es geht um Sex, es geht um Hautfarbe, es geht um Sport, es geht um Hollywood – und der einzige Augenzeuge ist ein Hund.“
Jeffrey Toobin, Autor von «The Run of His Life»
Die Villa Casa Casuarina, Miami, Florida
Als Gianni Versace am Morgen des 15. Juli 1997, so wie jeden Tag, von seinem Gang zum Zeitungskiosk nach Hause zurückkehrte, wurde er vor seinem Anwesen von einem Unbekannten auf offener Strasse erschossen. Zwei Kugeln trafen den damals 50 Jahre alten italienischen Star-Designer in den Hinterkopf, blutend sackte auf den weissen Marmorstufen der Casa Casuarina zusammen und verstarb kurze Zeit später im Krankenhaus. Der Täter wurde nur wenige Tage nach dem Mord identifiziert: Der 27-jährige Callboy Andrew Cunanan hatte zuvor bereits vier Männer erschossen und wurde von der Polizei landesweit gesucht. Er nahm sich acht Tage nach dem Mord an Versace mit der selben Waffe auf einem Hausboot das Leben. Ein eindeutiges Motiv ist bis heute nicht bekannt, die Ermittler können noch nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob sich Täter und Opfer kannten. Man geht davon aus, dass Cunanan mit der Ermordung einer bekannten Person selbst berühmt werden wollte.
Heute ist die Villa Casa Casuarina direkt am Strand von Miami ein opulentes Luxus-Hotel, das dem Designer ein Denkmal setzt: Das Interieur ist ganz im Stil Gianni Versaces gestaltet, das Versace-Logo – der Medusenkopf – und Stücke aus der Interieur-Linie von Versace dominieren die Einrichtung. Im Restaurant «Gianni’s» kann man sich mit mediterraner Küche verwöhnen lassen.

Bild: Zvg
Die Villa von Sharon Tate und Roman Polanski, Cielo Drive,
Los Angeles, Kalifornien
Am frühen Morgen des 9. August 1969 ereignete sich auf dem Anwesen am 10050 Cielo Drive in Los Angeles ein grausiger Mehrfachmord: Die Schauspielerin Sharon Tate, Ehefrau von Regisseur Roman Polanski und zu diesem Zeitpunkt hochschwanger, besuchte am Abend mit ihren Freunden Jay Sebring, Wojciech Frykowski und Abigail Folger das mexikanische Restaurant «El Coyote». Als die Freunde anschliessend zum Haus von Tate zurückkehren, werden sie kurze Zeit nach ihrer Rückkehr von vier Mitgliedern der so genannten «Manson Family» bestialisch abgeschlachtet: Susan Atkins, Charles Watson, Patricia Krenwinkel und Linda Kasabian dringen ins Haus ein und töten die vier sowie einen zufällig anwesenden Studenten mit insgesamt 102 Messerstichen. Sie handelten im Auftrag von Charles Manson: Ein 1934 in Ohio geborener Kleinkrimineller, der im Sommer 1967 anfing, eine Gruppe von Anhängern um sich zu scharen. Seine Gefolgschaft machte er mit Drogen und abstrusen Theorien gefügig. Er prophezeite einen Rassenkrieg, der ihn über ein paar Umwege zum Herrscher der USA machen würde. Hinweise darauf wollte Manson bei den vier Apokalyptischen Reitern entdeckt haben, allgemein besser bekannt als die Beatles. Besonders auf ihrem «White Album».
Nur einen Tag später fiel auch das Ehepaar Leno und Rosemary LaBianca am 3311 Waverly Drive der Manson-Familie zum Opfer, weshalb oft von den Tate-LaBianca-Morden die Rede ist. Auch hinter dieser Tat steckt Charles Manson und wiederum fehlt scheinbar jedes Motiv.
Im Laufe der Jahre sind beide Orte zu touristischen Attraktionen geworden – das Tate House am Cielo Drive wurde jedoch 1994 abgerissen, kurz nachdem die Band Nine Inch Nails 1992 ihr Album «The Downward Spital» dort aufgenommen hatte. Das unfassbare Verbrechen inspiriert nicht nur Musiker, sondern immer wieder auch Hollywood: Kultregisseur Quentin Tarantino greift den Mord in seinem neuen Film «Once Upon a Time … in Hollywood» auf.
Das LaBianca-Haus steht noch. Die Adresse hat sich geändert, das Haus hingegen sieht ziemlich genau so aus wie in dieser schicksalhaften Nacht. Aktueller Besitzer des Anwesens ist der Amerikaner Zak Bagans – TV-Moderator der Reihe «Ghost Adventures».
Bauernhöfe der Sonnentempler-Sekte, Cheiry FR und Granges-sur-Salvan VS, Schweiz
Es war der grösste Massenselbstmord, den die Schweiz je gesehen hat. Im Morgengrauen des 05. Oktober 1994 brennt im freiburgischen Dörfchen Cheiry ein abgelegener Bauernhof. Nur kurze Zeit später brennen im Dorf Granges-sur-Salvan im Wallis drei Chalets. Die herbeigerufene Feuerwehr entdeckte in den Brandruinen insgesamt 48 Leichen. Sie waren sternförmig angeordnet, trugen Säcke über den Köpfen und mystische Symbole bei sich. Alle wiesen tödliche Schussverletzungen auf. Unter den Toten befanden sich auch Frauen und Kinder. Eine erste Erklärung ist schnell gefunden – es handelt sich scheinbar um einen Massenselbstmord der sogenannten Sonnentempler-Sekte, auf den auch ein Abschiedsbrief hinweist: «Wir verlassen diese Erde ohne Bedauern, um in ganzer Klarheit und Freiheit eine Dimension der Wahrheit zu finden.» Auch die beiden Sektenführer Luc Jouret und Jo Di Mambro sind unter den Toten. Wie viele der insgesamt 53 Toten sich selbst erschossen haben und wie viele hingerichtet wurden, ist bis heute nicht geklärt. Sektenspezialist Georg Schmid erklärt gegenüber dem Schweizer Fernsehen SRF: «Nach heutigen Schätzungen sind die Leute zum Teil freiwillig in den Tod gegangen, zum Teil auch halbfreiwillig – wenn sie schon in der Sekte waren, mussten sie auch ganz mitmachen. Zum Teil wurden sie aber auch gezwungen und mit Kopfschüssen getötet.»
Die Rettung- und Bergungsmannschaften waren mit der grossen Zahl von Todesopfern überfordert. Hier eine Aufnahme vom abgelegenen Bauernhof in Cheiry:
Der Tat in der Romandie folgten zwei Nachbeben: Bei weiteren Massenselbstmorden im französischen Grenoble und in Kanada werden weitere 16 Leichen gefunden. Auch hier handelte es sich wohl um einen zumeist teilweise freiwilligen Selbstmord von Sektenmitgliedern, welche die erste Gelegenheit zum «Transit zum Sirius» verpasst hatten. Kurz vor den Ereignissen in der Westschweiz liess Sektenführer Di Mambro zudem in Kanada fünf Menschen ermorden. Insgesamt 74 Menschen starben im Zuge des «Transits» zum rettenden Stern Sirius, 11 von ihnen waren Kinder.
Der Bauernhof La Rochette in Cheiry wurde dem Erdboden gleichgemacht: Geblieben ist eine Wiese mit Obstbäumen.
Insel Utøya, Oslo, Norwegen
Um 15.25 am 22. Juli 2011 zündete Anders Behring Breivik vor dem Regierungsgebäude der norwegischen Hauptstadt Oslo eine Autobombe. Bei dem Anschlag wurden acht Menschen getötet und zehn verletzt. Zwei Stunden später erschoss er – als Polizist verkleidet – auf der Insel Utøya 69 Jugendliche, die sich dort in einem Feriencamp der Jugendorganisation der sozialdemokratischen Arbeiderpartiet (AUF) aufhielten. Er gab an, die Jugendlichen über den Osloer Anschlag informieren zu wollen. Augenzeugen zufolge soll er äusserst gnadenlos und kaltblütig vorgegangen sein. Breivik wurde noch am selben Abend auf der Insel Utøya festgenommen. Sein Motiv: Islam- und Rassenhass. Weniger Stunden vor der Tat hatte er ein über 1500 Seiten umfassendes Pamphlet mit dem Titel «2083. A European Declaration of Independence» verschickt, in dem er versucht, seinen Anschlag zu rechtfertigen. Im August 2012 wurde Breivik von einem norwegischen Gericht zu 21 Jahren Haftstrafe mit anschliessender Sicherheitsverwahrung verurteilt.

Bild: Paal Sørensen
Die Sozialdemokraten führen ihr Sommerlager auf der Insel Utøya seit 2015 wieder durch.
Denn die Insel galt in Norwegen als Symbol für Demokratie, Offenheit und Gemeinschaft. Aus diesem Grund entschied die AUF auch, die Insel nicht zum Friedhof verkommen zu lassen, sondern sie wieder zu ihrem ursprünglichen Zweck zu nutzen. Dennoch hat sich die Insel seit dem 22. Juli 2011 verändert: Ein neues Haupthaus ist gebaut worden, eine Gedenkstätte erinnert an die Opfer und die Cafeteria beherbergt ein Bildungszentrum über Extremismus. Ein «Museum für den 22. Juli» gibt es ebenfalls; es steht im Regierungsviertel in Oslo. In der Mitte eines kargen Raums liegen die zur Unkenntlichkeit geschmolzenen Reste des Wagens, den Breivik dort vor vier Jahren als Bombe benutzt hat.