Im Hafturlaub hat er in einer Unterführung einen Mann niedergestochen. Nun werden neue Details zu dem Fall bekannt.
Über ein halbes Jahr suchten die Behörden Tobias K.*, nachdem er im Juni 2016 mutmasslich einen 42-jährigen Mann im Zürcher Seefeld erstochen hatte. Im Januar 2017 erwischte ihn die Polizei. Nun ist die Untersuchung abgeschlossen und die Staatsanwaltschaft hat Anklage erhoben, wie sie am Dienstag mitteilt.
Die Liste der Anklagepunkt, welche Staatsanwalt Adrian Kaegi den beiden Beschuldigten vorwirft, ist lang: «Mord, strafbaren Vorbereitungshandlungen zu mehrfachem Mord, versuchter Befreiung von Gefangenen, Irreführung der Rechtspflege und mehrfachem versuchten Vergehen gegen das Waffengesetz».
Offenbar sollte das Delikt im Seefeld nicht das einzige bleiben. Tobias K. soll in der Zeit zwischen Flucht und Festnahme «diverse Vorbereitungshandlungen» für «weitere Tötungsdelikte getätigt haben», heisst es in der Mitteilung weiter.
Zuerst falschen verhaftet
Neben dem 26-jähirgen Schweizer erhebt die Staatsanwaltschaft auch Anklage gegen einen 38-jährigen Litauer, der eine zentrale Rolle in der Geschichte von Tobias K. einnimmt, die so unglaublich ist, dass sie aus einem Krimi-Drehbuch stammen könnte, wie der «Tages-Anzeiger» schreibt.
Die Tragödie begann am 30. Juni 2016 im Zürcher Seefeldquartier. Eine Passantin alarmierte am frühen Nachmittag die Sanität. Sie war an der Altenhofstrasse einem Mann begegnet, der um Hilfe rief und zusammengebrochen war. Obwohl ein Notarzt den Mann zu reanimieren versuchte, verstarb das Opfer noch vor Ort. Der Mann war ein IT-Koordinator des Botanischen Gartens, der sich unweit des Tatorts befindet, war 42 Jahre alt und wohnte in Höngg. Er erlag den Verletzungen, die ihm mit Messerstichen in Oberkörper und am Hals zugeführt wurden. Er schleppte sich nach der Tat noch eine kurze Strecke weiter, verstarb schliesslich aber kurz vor der Bahnüberführung. Noch während Wochen erinnerten Blumen und Kerzen, die Freunde und Arbeitskollegen niederlegten, an die grausame Tat.

Erinnerten an die Tat: Blumen am Tatort.
Bild: Stefan Hohler
Zwar konnte die Stadtpolizei kurz darauf einen jungen Mann verhaften, es stellte sich aber heraus, dass er nicht der Täter sein konnte. Passanten hatten zwar beobachtet, wie ein Mann in unmittelbarer Nähe des Tatorts beim Bahnhof Tiefenbrunnen über die Geleise rannte. Beim Verhafteten handelte es sich aber um einen 25-jährigen Kiffer, der aus Angst vor den vielen Polizisten geflohen war. Der Mann, welcher mit der Tat nichts zu tun hatte, wurde kurz darauf wieder freigelassen.
Das Treffen mit dem Litauer
Anhand von DNA-Spuren am Tatort war der Polizei bald bekannt, wer der mutmassliche Täter war: Tobias K., ein heute 26-jähriger Schweizer. Sofort schrieb sie ihn zur Fahndung aus. Der junge Mann aus dem Zürcher Weinland war in geordneten Familienverhältnissen aufgewachsen. In der dritten Primarklasse warf ihn eine Infektion mit Neuroborreliose aus der Bahn. Der Knabe erblindete beinahe und besuchte eine Schule für Sehbehinderte in Zürich. Die Sehstörung konnte erfolgreich behandelt werden. Die beiden letzten Primarschuljahre absolvierte er in einer Privatschule, wo er oft schwänzte, Alkohol trank und kiffte. Es folgten Time-outs in Kleinklassen im Ausland. 2008 schloss er die Sekundarschule ab. Eine Lehre als Schreiner brach er ab, es folgten Drogenentzüge und Therapien. Als 19-Jähriger wurde er Vater einer Tochter. Tobias K. lebte später von der Mutter des Mädchens getrennt, hat aber zu ihr und der Tochter weiterhin eine gute Beziehung.
Im Februar 2014 wurde K. wegen räuberischer Erpressung, Raub, Nötigung verhaftet und zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Unter anderem hatte er mit Komplizen einen Marihuana-Dealer, der ihnen rund 10’000 Franken schuldete, im Winter auf offener Strasse in einen Lieferwagen gezerrt, gefesselt und geprügelt. Sie fuhren den Mann in ein Waldstück, wo sie ihn aufforderten, mit einer Schaufel sein eigenes Grab auszuheben. Dabei schossen die Entführer mit einer Schreckschusspistole in die Luft, später liessen sie den gefesselten Mann im Schnee alleine zurück.
Tobias K. sass die Strafe in der Gefängnisanstalt Pöschwies in Regensdorf ab. Dort kam er in Kontakt mit dem Litauer, der zweiten Person, die eine zentrale Rolle in dieser Tragödie spielt. Dieser hatte im Sommer 2012 versucht, die Stadt Zürich auf 100 Millionen Franken zu erpressen; er drohte, Schulen, Kinderkrippen oder den Zürcher Flughafen in die Luft zu jagen. Im weiteren hatte er versucht, einen Industriellen um 50 Millionen Franken zu erpressen, ansonsten würde er dessen Familie töten. Die Polizei konnte den Litauer verhaften. Das Zürcher Obergericht verurteilte ihn zu acht Jahren Freiheitsstrafe.
K. und der Litauer fassten zusammen im Gefängnis einen teuflischen Plan, wie der Litauer in Freiheit kommen könnte: K. soll auf einem Hafturlaub einen Erpresserbrief verfassen, um die Freilassung des Litauers aus der Strafanstalt Pöschwies zu erwirken. Wenn sich die Zürcher Behörden nicht darauf einliessen, soll er einen Menschen umbringen, um der Forderung Nachdruck zu verleihen.
Ein Brief an den Kantonsrat
Gesagt, getan. Bei seinem eintägigen Hafturlaub vom 23. Juni 2016 bei seiner Familie kehrte K. am Abend nicht mehr in die Strafanstalt Pöschwies zurück. Zwar fahndete die Polizei nach ihm, öffentlich ausgeschrieben wurde K. aber nicht, was später zu einem politischen Nachspiel führte. Am 28. Juni – also zwei Tage vor der Bluttat im Seefeld – erhielt der Zürcher Kantonsrat ein wirres anonymes Schreiben, in dem gefordert wird, dass der Litauer in die Freiheit entlassen werden soll. Wenn nicht, müssten Personen sterben, wurde gedroht. Als mögliches Todesopfer wurde auch Tobias K. erwähnt. Da der Litauer nicht freigelassen wurde, schritt Tobias K. am Nachmittag des 30. Juni zu Tat. Mit einem Messer stach er auf das Zufallsopfer ein und tötete es. Der IT-Fachmann war buchstäblich zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Nach der Tat floh K.

Hier geschah der tödliche Angriff: Die Unterführung im Zürcher Seefeldquartier.
Bild: Stefan Hohler
Knapp sieben Monate dauerte es, bis die Polizei ihn verhaften konnte – im Kanton Bern. Denn K. war der Berner Kantonspolizei ins Visier geraten, weil er versucht hatte, im Darknet eine Pistole zu kaufen. Die Computerspezialisten der Polizei nahmen in der Folge mit dem Unbekannten Kontakt auf und boten eine Waffe an. Tobias K. biss auf den Köder an. Bei der vereinbarten Waffenübergabe im Kanton Bern wurde der Mann am 18. Januar 2017 von der Berner Kantonspolizei verhaftet. Erst jetzt stellte sich heraus, dass es sich um den national und international gesuchten Tobias K. handelte. K. hatte während der Flucht im Kanton Jura gelebt, in der Folge wurden in den Kantonen Jura und Zürich Hausdurchsuchungen durchgeführt. Die Polizei verhaftete zwei Personen, die ihm auf der Flucht geholfen hatten. Eine davon war die Ex-Freundin und Mutter des gemeinsamen Kindes.
Die Untersuchung durch Staatsanwalt Adrian Kaegi ist nun abgeschlossen. Während der Tobias K. ein Teilgeständnis abgelegt hat, bestreitet der litauische Beschuldigte die Tatvorwürfe, schreibt heute Dienstag die Staatsanwaltschaft. Beide befinden sich in Haft. Zum Strafantrag äussert sich Kaegi nicht. Bei der Schwere der Vorwürfe wäre nicht erstaunlich, wenn der Staatsanwalt eine lebenslängliche Freiheitsstrafe mit anschliessender Verwahrung fordern würde.
* Name der Redaktion bekannt.